Der Aufbruch der Gallier
Wie Widerstand den Weg ins Neue weist
„Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.“ Eine Binsenweisheit und dennoch Gebot der Stunde. Leider haben Menschen selten Lust Bewährtes und Geliebtes aufzugeben, um stattdessen ins kalte Wasser des Wandels zu springen. Was müssen Veränderungsarchitekturen bieten, um aus Widerstandskämpfern Abenteurer der Transformation zu machen?
Stolz auf stur
„Wir befinden uns im Jahre 50 v.Chr. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten…“
Sie kennen vielleicht auch diesen legendären Beginn fast aller Asterix-Hefte. Meine Sympathie gehört natürlich auch den selbstbewusst-widerspenstigen Galliern. Schlimm genug, dass die Römer als Besatzer ins Land eindrangen, sind sie auch noch unsympathische Zentralisten, Effizienzstreber, Besserwisser und fortschrittshungrige gesichtslose Gleichmacher. Mögliche vermutete Parallelen zu manchem Konzern sind rein zufällig…
Aber wer will sich schon mit solchen aalglatten Typen identifizieren? Die wehrhaften Gallier hingegen sind kauzige Individualisten, rückständige Bewahrer des wahrhaft Guten und leben in genussvoller Ruhe in ihrer geografisch wie intellektuell überschaubaren, zugegeben engen Welt. Stolz tragen sie ihre Geschichte, ihre unverwechselbare Identität und zwangsläufige Engstirnigkeit zur Schau und machen die Ablehnung jedes Wandels zu ihrer Mission. Wie gut, dass sie ein Geheimrezept gegen alle Stürme der Veränderung in Form eines Zaubertranks haben.
In meiner langjährigen Praxis als Transformationsberater lernte ich eine Vielzahl gallischer Dörfer kennen. Genau genommen gab es kein Projekt, in dem sich nicht mindestens eine Gruppe, Abteilung, Berufssparte oder ein Standort hinter stolz gepflegten Bräuchen, Privilegien und Überzeugungen verschanzt hat. Rettende Zaubertränke in Gestalt von Dienst nach Vorschrift, Informationsverzögerung und einer Vielzahl weit kreativerer Formen des Widerstands inklusive.
Einerseits bewundere ich Menschen, die selbstbewusst für das eintreten, was sie sind, können und glauben. Mitarbeiter, die den Mut aufbringen eindringliche Forderungen Außenstehender kritisch zu betrachten und auf Applaus für eine devote Anpassung verzichten.
Andererseits: Was, wenn im Kosmos der Gallier nicht mehr rohe Muskelkraft entscheidend wäre, sondern beispielsweise die Fähigkeit zur militärischen Formation, die Innovation des römischen Heers zu jener Zeit? Oder, noch schlimmer, wenn Waffen eingesetzt werden würden, die – kaum denkbar – stärker als die vier Fäuste von Asterix und Obelix wären?
Nicht nur die sympathischen Gallier mussten erkennen, dass das Verdrängen von epochaler Erneuerung kein Garant für Erfolg ist. Eher gilt das Gegenteil. Denn ein Zaubertrank schützt nur, solange die Gesetze des Erfolgs unverändert bleiben. Das ist einer der Gründe, warum der Friedhof ehemals marktbeherrschender Unternehmen voll von Organisationen ist, die in Zeiten epochaler Umbrüche blind ihrem Zaubertrank vertrauten, ohne dessen Essenz zu verstehen. Die nicht zwischen der Wunderkraft, die das Unternehmen in seinen Leistungen unverwechselbar macht und dem oberflächlichen Geschmack des Tranks in Gestalt bisheriger Produkte oder Technologien, unterscheiden können.
Muss daher Widerstand, der ein Zwilling des Wandels zu sein scheint, frühzeitig gebrochen werden? Ja, soll und kann Transformation notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden?
Ein hoch dem Gallier in uns
Widerstand ist mehr als eine sentimentale Replik gepaart mit vernebeltem Realitätssinn. Das „innere Gallien“ in jedem von uns ist ein exzellenter Indikator für das, was in der Veränderung wichtig ist, und zeigt das Potenzial des Wandels. Widerstand informiert darüber, welche Bedürfnisse und Hoffnungen wir beantworten müssen, um bei den Adressaten und Adressatinnen Aufmerksamkeit für den Aufbruch ins Unbekannte zu wecken. Zum Beispiel verringert das Versprechen, nichts ohne gemeinsames Gespräch zu verändern, die Angst vor Ohnmacht und Kontrollverlust. Oder das Aufzeigen von Zukunftsaussichten die nicht vorwiegend die Reduktion des Bisherigen, sondern ungewohnte Chancen zur persönlichen Entfaltung aufzeigen. Diese lassen hoffen und motivieren so manche befürchtete Schwierigkeit zu akzeptieren.
Dabei geht es um bedingungslose Wertschätzung dieser im Widerstand erkennbaren Werte und Wahrheiten. Radikaler Respekt anderer Wahrheit, unabhängig davon, ob wir sie nachvollziehen können oder nicht. Eine echte Herausforderung, wenn dadurch zentrale Werte des eigenen Selbstbildes in Frage gestellt werden. Doch welchen Grund hätte sonst ein Mensch, über alternative Wirklichkeiten und riskante neue Wege auch nur nachzudenken? Denn Wandel bedeutet geübte Praxis, vertraute Identität und die damit verbundene Sinnkonstruktion, sowie die beruhigende Akzeptanz relevanter Gruppen aufs Spiel zu setzen.
Wer tut das, wenn das Gegenüber auf implizite Abwertung setzt? Radikaler Respekt ist daher nicht nur ein guter, sondern der einzige Anfang, will man den Weg ins Neue nicht alleine gehen.
Widerstand als wegweisende Energie
Die ängstlichen, aber auch stolzen Gallier in uns spiegeln nicht nur Ängste und Bedürfnisse wider, sondern aktivieren in Vergessenheit geratene Kräfte, Kompetenzen und Hoffnungen und werden so zum Wegweiser für wirkungsvolle Veränderungswege.
Denn Gegenwehr reanimiert eingeschlafenen Stolz, vergessenes Selbstbewusstsein, aber auch die für die Entwicklung von Gegenstrategien nötige funkensprühende Kreativität. Das entfacht neues Leben in Büros, in denen nicht nur die Zimmerpflanzen langsam vertrocknen.
Die sich behauptenden Gallier in uns sind die Quelle für Mut, Motivation und die Bereitschaft sich den möglichen Gefahren zu stellen, um für das Wahre und Gute zu kämpfen und ihre Lebenskraft in den Dienst einer größeren Idee zu stellen. Wer Wandel ermöglichen will, muss Zuversicht auf sinnstiftende Bewährungsproben und die dabei erlebbare Selbstwirksamkeit im Blick haben und damit Widerstandskraft als Energie willkommen heißen.
Held der eigenen Geschichte
Seit der Antike stolpern Akteure wider Willen unvermittelt ins Abenteuer und vollbringen, ohne selbst darum gebeten zu haben, das Unmögliche. Auch jede Bewährungsprobe der Gallier beginnt unverhofft und erfordert, sich gegenüber den feindlichen Mächten zu beweisen. Das ist der Stoff aus dem Erfolgsmythen gesponnen werden.
Wirksame Wandlungsarchitekturen müssen daher ebenso motivierende Herausforderung bereitstellen, die Mitarbeiter:innen als „Helden bzw. Heldinnen“ der Veränderung ansprechen. Held:in zu sein, bedeutet im angeblich postheroischen Zeitalter, jedoch nicht als schillernde Einzelkämpferin oder gottgleiches Genie zu agieren, sondern sich als wirkmächtiges Subjekt zu bewähren.
Die schrittweise Wandlung dieses Subjekts wird spätestens seit Odysseus als verschlungene Abenteuerfahrt erzählt. Herausforderung für Herausforderung erneuern die Protagonist:innen, ohne es selbst zu bemerken, ihre Identität und zugehörige Welterzählung.
Und genau das ist es, was erfolgreiche Transformation ausmacht. Denn Wandel ist im Kern die radikale Erneuerung des Narrativs und Mythos, also der kollektiven Wahrheit über das Unternehmen, seine Stärken, Herausforderungen und Zauberkräfte. Doch was wäre ein Abenteuer, ohne die eigene Stärke beweisen zu müssen? Das wäre wie Asterix und Obelix, nur ohne Römer. Laaangweilig!
Gemeinsam Daumen drücken
Kurz zusammengefasst: Ohne Widerstand kein Drama. Ohne Drama keine Katharsis. Ohne Katharsis keine identitätsstärkenden Erfahrungen von Selbstbehauptung und damit keine Chance auf die Erneuerung des Mythos, der Basis erfolgreicher Transformation.
Nicht umsonst erzählen sich also Menschen Geschichten, die sich um die Überwindung von äußeren und inneren Widerständen drehen. Und egal ob antike Epen, Blockbuster oder Podcasts, wir hören gespannt zu, wie andere das geschafft haben und projizieren mit wohligem Schauder Gefahren und Erfolge auf uns.
Diese Lust auf Herausforderung, Bewährung und Drama ist es auch, die Menschen vor ihre Bildschirme treibt, um „ihrem“ Team bei Weltmeisterschaften die Daumen zu halten und Erfolg oder Misserfolg als den eigenen zu erleben, zu erleiden oder ausgelassen zu feiern. Welch Begeisterung für in Wahrheit völlig bedeutungslose Themen. Spannender ist die Frage, wie es gelingt, ähnliche Energien für essenziellere Fragen zu mobilisieren?
Zeitgemäße Transformationsarchitekturen nutzen nicht nur das Potenzial dieses passiven Story-Listenings, sondern gehen einen Schritt weiter. Heute leicht verfügbare (unternehmensinterne) soziale Medien können mit ihrem dialogischen Potenzial nicht nur vom Kampf mit dem sinnbildlichen Drachen berichten, sondern jeden Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin zum aktiven Teil des Widerstands gegen die dunklen Mächte machen. Statt dem Nationalteam kann ein aus Vertreter:innen aller Bereiche zusammengesetztes Expeditionsteam „prototypisch“ die Fragen, Zweifel, Ängste auf der Reise für alle sichtbar durchleben.
Die aktive Beteiligung vom einfachem „Liken“ über das Verfassen von Kommentaren, hilfreichen Hinweisen bis hin zu Public-Viewing Formaten oder Dialogtreffen mit Protagonisten der Odyssee ins Neue machen den Prozess zum gemeinsamen Erfolgserlebnis.
Anstelle des Roll-out vorgekauter Rezepte Dritter tritt die kathartische Entwicklung und Metamorphose. Der kreative Widerstand wird für den Kampf gegen nicht nachvollziehbare Vorgaben von Führungskräften oder Expert:innen verschwendet, statt ihn für die Bewältigung der eigentliche Herausforderung im Außen einzusetzen. Der Sieg entsteht gefühlt gemeinsam und alle sind Teil der Story. Nicht zufällig endet jedes Abenteuer der tapferen Gallier mit einem Gelage mit reichlich Wildschweinbraten für alle außer Troubadix, dem Barden. Aber das ist eine andere Geschichte.
Kein Aufbruch ohne Widerstand
Klingt alles reichlich emotional, obwohl es doch eigentlich um sachliche Probleme geht. Doch Wandel ist vorwiegend eine emotionale und narrative, also gedankliche und nicht wie oft fälschlich angenommen sachliche Herausforderung. Welchen Grund hätten wir sonst, so viel Energie in Widerstand zu investieren, wenn es nur um die reine Vernunft ginge. Als Berater werde ich daher eher nervös, wenn Widerstand ausbleibt. Denn wer die Kraft der Gallier nützt, hat die wichtigste Zutat für den Zaubertrank des effektiven Wandels entdeckt. Wie meinte einst Giuseppe Tomasi di Lampedusa: „Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.“
Dieser Artikel wurde erstmals im Magazin Personal-Manager im Mai 2024 publiziert. www.personal-manager.at/