Die beliebtesten Sackgassen ins Neue. Und wie wir rauskommen.

Wandel ist schwierig, anstrengend und kompliziert. Angeblich. Die gute Nachricht: Wir selbst sorgen mit ausgefeilten Vermeidungsstrategien dafür, dass alles schön beim Alten bleibt. Gedankliche Sackgassen rund um Transformation und Erneuerung sind dafür beliebte Wege. Auf ihnen fühlen wir uns unterwegs und doch entsteht kaum Fortschritt.

„Dieses ganze Erneuerungsgerede ist doch pure Zeitverschwendung. Was sollen Grundsatzfrage oder visionäre Flausen helfen? Was wir brauchen sind konkrete Lösungen, die sich sofort umsetzen lassen!“

Lies kürzlich Herr Willhelm F., eine erfahrende Führungskraft aus der Industrie, selbstbewusst während einer Zukunftskonferenz wissen. Visionäre Gedanken, mehrdeutige Perspektiven und tiefgründige Fragen oder doch besser eine einfache Antwort die zumindest kurz Erleichterung verschafft? Als Berater, Trainer und Redner erreichen mich täglich die Fragen nach praxistaugliche Instant-Lösungen.

Anders als Herr F. sind für mich das richtige Maß zwischen rascher Umsetzbarkeit, unverzichtbarer Offenheit und angemessene Tiefe der persönlichen Auseinandersetzung ein beständiger Spagat. Wo können klare Lösungen direktiv vermittelt werden? Was verlangt nach tiefgründigem Verlernen und oft scheinbar träge dahin mäandernden Suchprozessen mitten durch utopische Urwälder, um sich dem Potenzial der Zukunft zu näheren und noch unerschlossenes Zukunftsterrain zu erobern? Wie viel Zeit darf man, nein muss man sich dafür nehmen? Früher gehörte es zu den Pflichten einer Führungskraft auf jede Frage eine Antwort parat zu haben. Schließlich war man andern vorgesetzt, weil man es besser wusste. Dieses Leitbild des positionsbedingten Besserwissens, aus der vergangenen Zeit der Stabilität, ist heute zumindest theoretisch überholt. Doch die Hoffnung, dass zumindest ExpertInnen auf die drängenden Fragen einer Welt im radikalen Wandel möglichst einfache und praxisorientierte Antworten haben, wächst proportional zur Unübersichtlichkeit des Alltags.

Kindern gleich, hoffen viele bereitwillig, dass zumindest Sachverständige, wie einst Erwachsene, Eltern oder Lehrende, stets den Überblick behalten und die Lösungen kennen. In stabilen Entwicklungsphasen eine bequeme, aber verantwortungslose, jedoch wenigstens erfüllbare Hoffnung.
Doch in Zeiten disruptiven Wandels sind wir aufgerufen unsere Welt radikal neu zu erfinden. Und ExpertInnen können normativen Fragen nach dem wohin und warum auch nicht für uns entscheiden. Da wird die Hoffnung nach frei Haus gelieferten Antworten, die übersichtlich in Handbüchern zusammengefasst sind, so leid es mir tut, zur populären Sackgasse auf dem Weg ins Neue.
Um an den Bedenken von Herrn F. anzuschließen: Wahre Ressourcenverschwendung wäre es bei Fragen die sich hartnäckig wiederholen oder als scheinbares Dilemma zu erkennen geben und so auf ein bevorstehendes Epochenende aufmerksam machen, nur auf bisheriges Wissen zu setzen und auf mundgerecht vorgekaute Antworten zu erhoffen.

Auch wenn dieser Wunsch nach leichtverdaulicher Kost verständlich ist entscheidet die Frage, konkret deren Offenheit, Tiefe oder inhaltliche Breite, ob man ausreichend weit von den sprichwörtlichen Bäumen, die uns scheinbar Probleme machen, zurücktritt. Hoffentlich weit genug, um den Wald des Wandels und die darin schlummernden Chancen als solchen zu erkennen. Denn jede noch so richtige Antwort ist nutzlos, ist bereits die Frage Teil des eigenen Irrtums.
Probleme wie der Klimawandel, das Artensterben oder die fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen, die die Digitalisierung auslöst, sind allesamt epochal. Angemessene Antworten erfordern daher die Erneuerung der gültigen Wahrheiten über die Welt in der wir leben, arbeiten und wirtschaften.
Solange wir Antworten auf diese Fragen innerhalb unserer gewohnten Erzählung von Glück durch materielles Wachstum oder Fortschritt und Rettung durch Technik suchen, bleibt nur zu scheitern oder das kräftezehrende kathartische Stolpern ins Neue. Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen bzw. im selben Bewusstsein lösen, die zur Entstehung beigetragen haben, meint auch Albert Einstein. Recht hat er!

Schade, um so viel vergeudete Problemlösungen und übersehene Chancen. Nur wenn die Welt neu sehen und verstehen und so aus einer neuen Perspektive die meist auch mit den normativen Frage des Wozu beginnt, neu erzählen können, gelingt es bisherige Probleme mit neuer Zukunft zu beantworten.
Dafür ist es nötig bisheriges Wissen zu verlernen und sich auf gedankliches Neuland zu wagen. Wenn diese Ablösung vom bisherigen Denken gelungen ist, helfen Ausflüge zum Hoffen und Wünschen und gedankliche Experimente auf utopischen Spielplätzen, um zeitgemäße Antworten zu finden.
Für Praktiker heißt das: Schluss mit dem Reparieren der Vergangenheit bei epochalen Problemen. Schluss mit dem Versuch die alte Zukunft zurecht zu sparen. Hin zur potenziellen Fülle der neuen Zeit, die wir nur noch nicht begreifen, weil uns die Neuerzählung der Wirklichkeit noch fehlt. Und wenn sie nach demnächst nach einer Problemlösung fragen, überlegen sie zuerst, welche zu verunsichernden, möglicherweise überkommene Wahrheit bereits in der Frage mitschwingt. Ob ihre Frage ausreichend tief, breit und radikal ist, um eine neue Perspektive zu ermöglichen. Auch wenn sich grundlegendere Fragen zunächst nach Zeitverschwendung anfühlen und das Kramen in normativen Fantasien ungewohnt ist, so leben wir in Zeiten die deutlich mehr Visionen und Utopien brauchen, als kurzsichtige Auswege für Sackgassen von gestern.

Erstveröffentlichung: Magazin Personalmanager 6/2021

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