Transformation? Utopisch. Wie die Wirklichkeit von morgen entsteht

Krisen fesseln unsere Aufmerksamkeit. Schnell wollen wir Probleme in den Griff bekommen. Doch damit bleiben wir Gefangene der Zukunft von gestern. Ohne es zu wollen wiederholen, ja verstärken wir damit bisherige Probleme. Wer das Potenzial neuer Zukünfte nutzen und Transformation leben will, muss den Blick nach Utopia richten.

Problemtrance

Drei Meter hoch werde sich in London der Pferdemist auftürmen. Jedes Weiterkommen unmöglich. Das mondäne städtische Leben erstickt unter einer undurchdringlichen Wand aus Dung. Spätestens 1950 werde es soweit sein. Ein Teufelskreis, da nur wieder Pferdefuhrwerke den Mist aus der Stadt bringen könnten. Diese Aussicht erzeugte bei den Stadtvätern von London und New York 1894 tiefe Sorgenfalten. Doch wer nicht mehr weiter weiß, gründet einen Arbeitskreis. Oder noch besser: veranstaltet eine Konferenz! Diese fand 1898 in New York statt.

Welche Lösung wurde gefunden? Keine! Denn erstens kommt es anders und zweitens manchmal von alleine. Denn die Mobilitätsrevolution jener Tage durch Fahrrad, Massenverkehrsmittel und letztlich das Automobil lösten die Mistkrise. Ganz nebenbei. Nichts musste verboten, optimiert oder repariert werden. Die neue Zukunft, die Ablöse vom Lebendigen durch das Technische, setzte sich unaufhaltsam durch. Viele Menschen waren einfach begierig, das Neue zu tun.

Museums Victoria, Unsplash

Das Automobil löste die Mistkrise. Ganz nebenbei.

Heute haben wir zwar andere Probleme. Doch das Prinzip, wie man sich verirren kann, weil man zu sehr am Problem interessiert ist, ist dasselbe geblieben.

Gefahren bannen unsere Aufmerksamkeit

Gefahren, Probleme und Krisen fokussieren unsere Aufmerksamkeit. Gut so, könnte man meinen. Denn wir wenden uns Bedrohungen zu, um rasch Abhilfe zu schaffen. Flucht, Angriff oder Totstellen sind übliche Alternativen um aus einer Sache heil raus zu kommen. Zu diesen frühzeitlichen Problemreflexen gesellen sich heute, kaum weniger reflexhaft, neue Reaktionsmuster: Fehlersuche, Reparatur, Optimierung oder am besten die Steigerung der Geschwindigkeit, Anstrengung und Wachstum.

Solange wir es mit Säbelzahntigern, Fehlern, Missgeschicken oder höchstgewaltlichem Unglück zu tun haben, versprechen die genannten Lösungsstrategien Erfolg. Doch für Probleme, die in Wahrheit nur Symptome eines epochalen Wandels sind, helfen diese Antworten nicht.

Sie bieten durch die Beschränkung auf eine kurzsichtige Reparatur einer bereits veralteten Zukunft bestenfalls momentane Erleichterung. Die konservierenden Lösungsstrategien führen zu höheren Kosten und einem umso lauter krachenden Ende der überalterten Ära und der eigenen Position darin.

Denn epochale Krisen können, wie schon Einstein sinngemäß meinte, nicht im selben Bewusstsein, also Wirklichkeitsverständnis gelöst werden, aus dem sie hervorgegangen sind. Und egal ob Klimakrise, Digitalisierung, Ungleichheit oder Kapitalismuskrisen, jede zeigt unmissverständlich das Ende einer Wirklichkeitsepoche an. Sie erfordern zur Lösung ein neues Bewusstsein, einen völlig neuen Blick auf die Welt.

Daher ist auch die aktuelle Fokussierung auf die drängenden Probleme unserer Zeit zwar ehrenwert, aber kontraproduktiv. Schon vor mehr als 100 Jahren lenkte die Betrachtung des Pferdemists von den rundherum stattfindenden Umbrüchen nur ab.

Epochale Krisen zu überwinden, bedeutet also Bestehendes nicht einfach unhinterfragt zu reparieren, sondern die Wirklichkeit radikal neu zu denken.

Transformation braucht die Neuerzählung der Zukunft und Gegenwart

Transformation unterscheidet sich grundlegend von den Management-, Change- und anderen gutgeübten Problemlösungsmechanismen, die wir aus vergangenen wirklichkeitsstabilen Perioden gewohnt sind. Sie bedeutet damit die Umkehr unserer Aufmerksamkeit und Blickrichtung. Weg vom Problem und der Vergangenheit, hin zum Möglichkeitshorizont und den möglichen Zukünften. Denn solange wir nur Probleme anstarren, beten wir bisherige Ziele, Werte und Wirklichkeitsgrenzen an und prolongieren sie damit unabsichtlich.

Wandel bedeutet mit bisherigen Wirklichkeitsmustern und Sinnzuschreibungen zu brechen und neue Wirklichkeit, ja, zu erfinden! Nicht selten lösen sich damit sogar die paradigmatischen Endzeitsymptome, Verzeihung, alten Probleme, fast von selbst.

Doch einfach schnell „Neues-zu-denken“ klingt einfacher als es mitten in der sich unermüdlich selbst erzeugenden, aktuellen Wirklichkeit und Wahrheit ist. Dieses Problem beschäftigte bereits Henry Ford: „Wenn ich meine Kunden fragen würde, was sie sich wünschen, dann bekäme ich zur Antwort: schnellere Pferde.“ Menschen können eines perfekt: vertraute Linien fortsetzen und einmal gelernte Formen vervollständigen, auch wenn sie nur ihrer Deutung entspringen.

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Henry Ford: „Wenn ich meine Kunden fragen würde, was sie sich wünschen, dann bekäme ich zur Antwort: schnellere Pferde.“

So stehen wir vor einem ausgewachsenen Wahrnehmungs- und damit Erneuerungsdilemma. Denn wie kann es gelingen, wenn wir unbewusst im bisherigen Wirklichkeitsverständnis gefangen sind, und gleichzeitig die ungeborene neue Wirklichkeit voraussehen sollen, die wir im selben Moment gebären müssen?

In der Praxis fehlen für diese neuen Sinnzusammenhänge oft im wahrsten Sinne „die Worte“. Neues wird erkannt, kann aber nicht treffend benannt werden, sondern wird in der alten Ordnung notdürftig beschrieben. Die Folge: Kutschen ohne Pferde, bis wir das Automobil unabhängig davon sehen lernten. Denn wo keine schlüssigen Gedanken vorrätig sind, da nehmen wir auch keine Form oder sinngebende neue Gestalt wahr. Was für ein Dilemma. Und was für ein Wunder, dass die Entdeckung neuer Wirklichkeiten trotzdem immer wieder stattfindet.

Das Prinzip, das diese Anforderung gelingen lässt: „Ein Ausflug nach Utopia“

Wie gut, dass wir nicht die Ersten sind, die auf dieses Problem stoßen. Wie immer waren die alten Griechen schon vor uns da. Aber nicht nur sie. Die Odyssee, populärer Prototyp kathartischer Reisen hinter den eigenen Horizont; gestrandet an den Küsten fiktionaler Inseln andersartigen Zusammenlebens, den zahlreichen ewig unauffindbaren Utopias; oder die Furcht des Comic-Helden Hägar des Schrecklichen vom Rand der Weltscheibe zu kippen; in den vergangenen 2500 Jahren gab es unzählige Geschichten, die die Überwindung der Grenzen paradigmatisch beschränkter Wahrheit zum Thema haben. Was können wir aus diesen Erneuerungsgeschichten lernen? Wie gelingt die Neuentdeckung der Wirklichkeit?

Der Weg, der für Wandlungsprozesse archetypischen Heldenreise, besteht meist aus drei charakteristischen Phasen und einem Prinzip. Zu Beginn gilt es loszulassen, zu verlernen oder besser, die aktuell wirkende Wirklichkeit zu relativieren. Als würde die vertraute Küste langsam verschwinden. Offenes Meer, kein Land in Sicht. Im Prozess der Transformation bedeutet das, Wirklichkeit als subjektive Vereinbarung zu begreifen und sich, neugierigen Kindern gleich, offen, naiv und spielerisch auf neue Bedeutungen und Möglichkeiten einzulassen. Statt zu verstehen, geht es darum, sich über bislang Selbstverständliches zu wundern und so alternative und potenziell neue Wahrheit zu erleichtern. Ein produktiver (Wahrnehmungs-) Musterbruch der die Grenzen von wirklich und möglich sprengt.

Foto: Ant Rozetsky, Unsplash

Offenes Meer, kein Land in Sicht.

Verloren in der Weite des Ozeans. Mut, Zuversicht und Vorräte neigen sich dem Ende zu. Da, eine kleine Wolke am Horizont! Sie kündigt eine ferne Insel an. Die ewig unauffindbare Insel Utopia. Dieses auch in anderen Bezeichnungen benutzte Konzept eines uneinnehmbaren Möglichkeitsraums spielt eine Hauptrolle bei der Lösung des Wahrnehmungsdilemmas und der Überwindung überalterter Realität.

Bloß ein Traum, eine Fantasie oder doch bald Wirklichkeit? Wer kann sagen, wo die Grenze zwischen wahr und wirklich bald liegen kann? Das unauffindbare Eiland bietet geeignete Bedingungen, um das Potenzial, das wir als Person oder Organisation in uns tragen, zu erkennen und mit jenen neu gewonnenen, meist noch unverständlichen Eindrücken unserer bisherigen Reise zu verbinden. Eine gute Gelegenheit, um utopische Szenarien und Probewelten zur Probe neu zusammenzufügen.

Im Spiel mit Fantasien mit alternativen Wahrheiten bilden sich neue Wirklichkeitskerne und damit Möglichkeitscluster, die mutig der bisherigen Welterfahrung entgegenstehen.

Nicht umsonst proklamierte Martin Luther King in seiner berühmten Rede vor dem Lincoln Memorial in Washington DC: „I have a dream…“ – und nicht – “We have a problem“. Er vereinte die Massen in einer gemeinsamen Sehnsucht, verbunden mit einer neuen Wirklichkeitsgeschichte, die allen Platz bot.

Die Phase der (gedanklichen) Heimreise bedeutet die Konfrontation mit der alten Welt, in der die Ausgangswirklichkeit unerschüttert besteht. Nun gilt es die noch unverständlichen, ja provokanten, Reiseeindrücke als faszinierende Souvenirs alternativer Wirklichkeiten, quasi als utopische Zumutungen mitten in die bestehende Welt zu pflanzen

Neuen Ideen mögen vielleicht noch fehlerhaft oder plump erscheinen, sind aber hoffentlich inspirierender als die bisherigen Probleme. Erinnern wir uns an die aufkommenden Fahrräder. Skurril anmutende, fehleranfällige Fortbewegungsmaschinen, unterwegs auf dafür völlig ungeeigneten Straßen und dennoch zogen sie die Aufmerksamkeit auf sich. Jeder, der als fortschrittlich und frei gelten wollte, sah sich bald als unabhängiger Cyclist in eine leuchtende Zukunft radeln. Um mit diesem Beispiel technischer Innovation nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht um problemlösende Innovationen, sondern darum, von der Problemfixierung, ja zeitweiligen Problemtrance, hin zur Faszination der Neuerschaffung von Wirklichkeit zu kommen, verbunden mit einem verlockenden, weil sinnstiftenden Identitätsangebot. So zieht sich das vermeintlich unlösbare Wahrnehmungsdilemma selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf und wir lernen uns aus der ungeborenen Zukunft zu verstehen. Beste Grüße an den Lügenbaron Münchhausen!

Nur eine nette Geschichte?

Die notwendige Revolution für persönliche, organisationale oder gesellschaftliche Neuordnung bedeutet also nicht problemzentrierte Konferenzen zu organisieren, wie einst die von Pferdemist bedrängten Stadtväter. Die erfolgversprechendere Strategie ist die Entsendung von Expeditionen ins Leere, die Schulung der intentionslosen Neugier, gefolgt von der Erforschung wegweisender Sehnsüchte und das Spiel mit durchaus utopischen Zukünften, in denen wir leben wollen.

Die notwendige Revolution für persönliche, organisationale oder gesellschaftliche Neuordnung bedeutet also nicht problemzentrierte Konferenzen zu organisieren, wie einst die von Pferdemist bedrängten Stadtväter. Die erfolgversprechendere Strategie ist die Entsendung von Expeditionen ins Leere, die Schulung der intentionslosen Neugier, gefolgt von der Erforschung wegweisender Sehnsüchte und das Spiel mit durchaus utopischen Zukünften, in denen wir leben wollen.
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